Syrien: Wie repräsentativ ist die neue Übergangsregierung?
1. April 2025Die neue Übergangsregierung Syriens steht. Am Wochenende gab Interimspräsident Ahmed al-Scharaa die 23 Kabinettsminister bekannt, die das Land während der nächsten fünf Jahre zu dann anstehenden Wahlen führen sollen.
"Wir erleben den Beginn einer neuen Phase unseres nationalen Weges", erklärte al-Scharaa während der Vorstellungszeremonie. Die neue Regierung stehe für den gemeinsamen Willen der Syrer zum Aufbau eines neuen Staats.
Bislang wurde die Übergangsregierung von Verbündeten oder Mitgliedern der Haiat Tahrir al-Scham (Komitee zur Befreiung Syriens, HTS) dominiert. Die einst aus einem Ableger des Terrornetzwerks Al-Kaida hervorgegangene Miliz führte im November und Dezember vergangenen Jahres unter dem Kommando al-Scharaas die Offensive an, die im Sturz von Diktator Baschar al-Assad mündete.
Nicht wenige Beobachter hatten vor der Regierungsbildung Sorgen: Denn wäre das neue Kabinett weiterhin von religiösen Politikern und ehemaligen HTS-Kämpfern dominiert worden, hätte sich dies als Hinweis deuten lassen, dass die HTS ihre Macht festigen wolle. Dass sich das Kabinett nun aber aus Angehörigen der unterschiedlichen Gemeinschaften, Ethnien und Religionen des Landes rekrutiert, gilt weithin als positives Zeichen.
Minderheiten sind vertreten
Wie allgemein erwartet, behielt die die HTS zwar wichtige Ministerien, darunter das Außen-, Verteidigungs-, Justiz- und Innenressort. Doch rund die Hälfte der neuen Minister gehört nicht der HTS an. In der Summe repräsentieren sie damit die Vielfalt der syrischen Gesellschaft.
Der Mediensender Syria.tv verglich das neue Kabinett mit früheren Regierungen der Assad-Zeit und bilanzierte. Demnach ist die Zahl der alawitischen Minister von vier auf einen gesunken, die der christlichen Minister von zwei auf einen. Die Drusen sind weiterhin durch einen Minister vertreten. Die sunnitischen Minister stellen wie bereits unter Assad die Mehrheit.
Bemerkenswert ist auch die Struktur des neuen Kabinetts: Einige Ressorts wurden neu geschaffen, alte zusammengelegt, einige sogar ganz abgeschafft. Zu den neuen Ressorts gehören ein Ministerium für Jugend und Sport sowie ein Ministerium für Notfall- und Katastrophenschutz. Die Ministerien für Erdöl, für Wasser und für Elektrizität wurden zu einem einzigen Ressort zusammengelegt. Auch das Wirtschaft- und das Industrieministerium wurden vereint.
Fachexpertise im Kabinett
In den sozialen Medien feierten nicht wenige Syrer den technokratischen Charakter des neuen Kabinetts. Die meisten neuen Minister seien Experten, ja sogar Spezialisten auf ihrem Gebiet, hieß es.
Besonders oft erwähnt wird in diesem Zusammenhang der neue Finanzminister Mohammad Yasser. Er studierte Wirtschaftswissenschaften in den USA, absolvierte eine Ausbildung bei der New Yorker Federal Reserve und arbeitete zuvor als Ökonom beim Arabischen Währungsfonds. Auch der neue Wirtschaftsminister Mohammad Nidal al-Schaar kennt sein Fach: Als Wirtschaftsprofessor lehrte er in Syrien und den USA. Al-Schaar hatte denselben Posten bereits zwischen 2011 und 2012 inne und ist einer von mehreren Neuberufenen, die zuvor bereits für das autoritäre Asad-Regime gearbeitet haben.
Der neue Energieminister, Mohammed al-Baschir, ist ausgebildeter Elektroingenieur. Vor dem Krieg arbeitete er im syrischen Energiesektor. Zuletzt war er Premierminister der Übergangsregierung und davor Leiter der Zivilverwaltung in Gebieten, die unter der Herrschaft der HTS standen. Da der Posten des Premierministers zugunsten eines Präsidialsystems abgeschafft wurde, wurde al-Baschir das Energieministerium übertragen.
Der neue Gesundheitsminister, Musab al-Ali, ist Neurochirurg. Nach seiner Flucht 2014 arbeitete er mehrere Jahre in Deutschland. Dort leitete er außerdem die Syrische Gemeinde in Deutschland (SGD), die sich für verstärkte Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Syrern einsetzt. Während des Krieges engagierte sich der Arzt immer wieder auch in von der Opposition kontrollierten Gebieten des Landes. Zuletzt organisierte er Delegationen deutscher und syrischer Ärzte, die dort als Freiwillige arbeiteten.
Al-Ali ersetzt zudem eine der bislang umstrittensten Ernennungen der Übergangsregierung: Seit Dezember amtierte Maher al-Scharaa, der Bruder des syrischen Präsidenten, als Gesundheitsminister.
HTS ersetzte zudem einen weiteren umstrittenen Kandidaten, nämlich den bisherigen Justizminister, der Berichten zufolge Hinrichtungen in Idlib beaufsichtigt haben soll.
Eine der populärsten Ernennungen ist die von Raed al-Saleh, Mitbegründer und mehr als zehn Jahre lang Leiter der syrischen Zivilschutzgruppe Weißhelme. Er wird nun Minister für Umwelt, Notfälle und Katastrophenschutz.
Kontroversen um einzige Frau im Kabinett
Die Ernennung der kanadisch-syrischen Anwältin Hind Kabawat zur neuen Ministerin für Soziales und Arbeit stießen auf Zustimmung - aber in konservativen Kreisen auch auf Kritik. Die christliche Friedensaktivistin war während des Krieges ein hochrangiges Mitglied des Verhandlungsteams der syrischen Opposition in Genf. Einige Kritiker beklagten, dass Kabawat die einzige Frau im 23-köpfigen Kabinett ist. Es brauche mehr Frauen in der Regierung, argumentierten sie. Islamistische Hardliner kritisierten hingegen, dass sich Kabawat für LGBTQ-Rechte einsetzt. Sie erinnern daran, dass Kabawat im Jahr 2015 in ihr Profil auf Facebook einen Regenbogen, das Symbol der LGBTQ-Bewegung, integrierte.
Kritik der Kurden
Die schärfste Kritik an dem neuen Kabinett kommt jedoch von der syrisch-kurdischen Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES).
Deren Vertreter monieren, dem neuen Kabinett weder Mitglieder der AANES noch der von den USA unterstützten, kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) angehören.
Mit Mohammed Terko ist jedoch ein syrischer Kurde am Kabinettstisch vertreten: Er ist fortan syrischer Bildungsminister.
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.